Reisetagebuch Eintrag 2007

21. August 2007
Es ist Urlaubszeit und zum ersten Mal seit Jahren treffe ich deshalb zwei Familien nicht an. Sie sind bei Verwandten zu Besuch. Verwandtenbesuche sind in Russland eher selten, weil die Entfernungen zwischen den Wohnorten sehr groß sind. Der Weg mit dem Auto oder dem Bus ist meistens sehr strapaziös. Die russischen Straßen in die Provinz sind selten ausgebaut und das Reisen mit dem Bus ist nicht so angenehm wie bei uns. Es gibt keine Klimaanlage und der technische Zustand der Fahrzeuge ist nicht gerade vertrauenserweckend. Auffallend sind die deutschen Schriftzüge außen auf einigen Bussen oder innen, beispielsweise an den Ausgängen. Es sind alte ausgemusterte Busse aus Deutschland. Sie wurden nach Russland importiert und sind dort moderner und meistens noch in einem besseren Zustand als die russischen Busse.
Am Wochenende fahren die Moskauer gerne aufs Land. Es scheint, als hätten sie Pereslawl als Refugium auserkoren, um sich von den Strapazen der Großstadt zu erholen und auszuspannen. Es gibt in Pereslawl keine Schwerindustrie und der große Naturpark, der See und die Wälder laden geradezu zum Kräftesammeln ein. Zuvor wird der Erholungssuchende jedoch auf eine große Geduldsprobe gestellt. Auf der Strecke Moskau- Pereslawl stehen die Autos stundenlang im Stau, für eine Strecke von 2 Stunden benötigt man an manchem Wochenende das Dreifache.
Viele Künstler aus Moskau haben sich in Pereslawl zu einem Künstlerkreis zusammengeschlossen und lassen sich von der Natur und den vielen Kirchen und Klöstern in ihrem künstlerischen Schaffen inspirieren. Zwei renommierte Moskauer Künstler habe ich hier über einen Bekannten kennen und schätzen gelernt.
Am letzten Freitag hatte Olga K. Besuch aus Moskau, gemeinsam sind wir aufs Land gefahren. Nicht weit von Pereslawl entfernt wohnen Olgas Eltern in einem winzigen Dorf zwischen Wäldern und großen Feldern in einem alten Bauernhaus. Der Weiler hat wenige Einwohner und im Winter, wenn der Schnee sehr hoch liegt und nicht geräumt wird, sind sie von der Außenwelt abgeschlossen. Aber das scheint den Menschen dort nichts auszumachen. In ihrem Garten wachsen alle Sorten von Gemüse, teilweise in improvisierten großen Gewächshäusern. Olgas Mutter Nina zeigt mir voller Stolz und Lebensfreude ihre Erzeugnisse:
Tomaten, Gurken, Roten Rüben, Paprika, Kürbisse, Zucchinie, Gelberüben, Rettich, Knoblauch, Zwiebeln und natürlich das allerwichtigste für eine russische Familie, die Kartoffeln, die sogar zum zweiten Mal in diesem Jahr blühen. Ich schaue diese mittelgroße, zierliche Frau von der Seite an und frage mich insgeheim, wie sie das alles schafft. Sie hat eine Ziege zu versorgen, die sie zweimal am Tag melken muss, dazu kommen noch mehrere Stallhasen.
Auf keiner russischen Datscha dürfen die Blumen fehlen, so auch bei Nina. Neben dem schmalen Weg zum Saunahäuschen wachsen Löwenmäulchen, Zinien, Gladiolen, Astern, Studentenblumen. Wie in einem richtigen Bauerngarten. Mit den Rosen hatte sie allerdings bisher nicht so viel Glück, den Rosenbogen schmückt daher erst einmal eine blau blühende Klematis.
Für ihren Besuch stellt Nina den Samagon, einen selbstgebrauten Schnaps, auf den Tisch und erzählt uns dabei, wie sie ihn herstellt. Sie sammelt eine bestimmte, gelb blühende Pflanze, und aus deren Wurzel und hochprozentigem Alkohol macht sie dann den heilsamen, so genannten Samagon oder Balsam. Während die Hausfrau gestenreich und voller Lebensfreude erzählt, schüren die anwesenden Männer das Feuer für das obligatorische russische Schaschlik. Schaschlik grillen ist in Russland in der Regel Männersache, wobei jeder Mann sein eigenes Rezept zu haben scheint. Die Fleischstücke werden zunächst auf sehr große Spieße gesteckt und je nach Lust und Laune entweder mit Bier, mit Zitrone oder mit Kefir übergossen. Dazu servieren die Russen gerne selbst gemachte Salate, Tomaten, frische und / oder eingelegte saure Gurken, Kartoffeln und Brot, welches eigentlich nie fehlen darf. Dazu gibt es viel Petersilie und Dill. Es ist einfach köstlich, diese natürlichen Produkte zu essen. Noch dazu auf einer großen, überdachten hölzernen Veranda vor der russischen Sauna, mit einem herrlichen Blick auf die umliegenden Wälder und ehemaligen Kolchosefelder. Ich spüre das Leben ganz intensiv und auch der Moskauer Besuch genießt die Natur, die Sauna und das gute Essen. Nina und ihr Ehemann erzählen, wie sie selbst im tiefen Winter in die Sauna gehen und sich anschließend im Schnee abkühlen. Nach russischem Brauch wird nach jedem Essen Tee getrunken, dazu gibt es so genannte “ Konfete” oder Kuchen. Gennadi, ein 63-jähriger ehemaliger Chefkoch, zeigt mir, wie man ohne Strom Tee kocht. Im großen alten Samowar befindet sich in der Mitte ein kleines Ofenrohr. Dorthinein füllt er heiße Kohle vom Grill. Danach wird ein Ofenrohr oben aufgesteckt, damit der Rauch abziehen kann. Das heiße Ofenrohr heizt das Wasser im Samowar, in den frische Johannisbeer-, Brombeer- oder Himbeerblätter etc. gelegt werden. Der Tee schmeckt besser als jeder andere Tee aus dem Teebeutel…Köstlich!! Gennadi und Nina bauen nicht nur für den Eigenbedarf an. Sie beliefern Olgas kleines Restaurant in Pereslawl, in dem russische Köstlichkeiten serviert werden.
Olga betreibt nicht nur dieses kleine Restaurant, sondern auch einen kleinen Lebensmittelladen und ein Reisebüro. Sie organisierte für französische Gäste eine Art “Abenteuerurlaub” in Russland. Die Touristen wollten erleben, wie die einfachen russischen Menschen leben und arbeiten. Olga brachte sie zu Nina und Gennadi aufs Land. Dort lebten sie einige Tage ohne fließend Wasser, ohne Dusche. Geschlafen wurde im Wohnzimmer der Familie nachdem das Schlafen in den mitgebrachten Zelten zu kalt war. Am Tage erlebten sie das normale touristische Programm- d.h. sie besuchten die Sehenswürdigkeiten in den Städten auf dem Goldenen Ring. Die Abende verbrachten sie wieder auf dem Lande bei Nina und Gennadi, halfen im Garten, gingen in die russische Sauna, aßen auf der Veranda und genossen einfach die Natur und die Gespräche.
Mit einem von den Medien geprägten Russlandbild sind diese Besucher angekommen, und sie verließen Russland mit dem Gefühl, Freunde zu verlassen. Sie hatten tiefe Einblicke in die Kultur und die Lebensweise der einfachen Menschen bekommen und von diesen gelernt von und mit der Natur zu leben. Nina schwärmt noch heute von “ihren Franzosen” und ihrem “spanischen Chirurgen”. Die Gruppenfotos stehen zur Erinnerung auf dem Tisch im Wohnzimmer und zu jeder Person erzählen Nina und Gennadi liebevoll eine andere Anekdote…..
Auch ich verlasse Nina und Gennadi mit guten Gefühlen, wohl wissend, dass ihr Leben auf der einen Seite sehr hart ist, sie es aber auf keinen Fall mit einem Leben in der Stadt eintauschen möchten.
Bedrückend verlief heute der Besuch bei Swetlana K. Seit  einigen Jahren geht sie am Stock und kann das alte, halbverfallene Haus nicht verlassen da ihre Wohnung im 2. Stock liegt.